© Rolf Gössner
>Sicherheitsrisiko
Mensch<
Globale
Massenüberwachung untergräbt Völker- und Menschenrecht,
Rechtsstaat und Demokratie
2013 geht in die Geschichte ein als ein
Jahr, in dem eine neue, bislang unvorstellbare Dimension geheimdienstlicher
Überwachung und Kontrolle bekannt geworden ist, die Hunderte Millionen, ja
Milliarden von Menschen in aller Welt betrifft. Dieses Thema und die öffentliche
Diskussion darüber dominierten alle anderen Bürger- und Menschenrechtsverletzungen,
die im Grundrechte-Report 2014 behandelt werden.
Historisch
einmalige Enthüllungen
Im Juni 2013 sind erstmals Unterlagen
veröffentlicht worden, die eine umfassende Ausforschung von Telefonaten, SMS,
Internet, Emails und Sozialen Netzwerken durch den US-Auslandsgeheimdienst NSA
(National Security Agency) und den
britischen Geheimdienst GCHQ (Government
Communications Headquarters) belegen. Die historisch einmaligen Enthüllungen
über globale Massenüberwachung basieren auf geheimen Dokumenten, die der nach
Russland geflüchtete Ex-NSA-Mitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden über
die internationale Presse veröffentlichen ließ und weiterhin lässt - es handelt
sich um ca. 60.000 Geheimdokumente, von denen 2013 erst ein kleiner Bruchteil veröffentlicht
wurde. Fast täglich werden neue Spähprogramme wie Prism, Tempora oder XKeyscore sowie Überwachungsaktionen
und -objekte bekannt. Snowden spricht von der „größten verdachtsunabhängigen
Überwachung in der Geschichte der Menschheit“. Weil er sie für menschenrechtswidrig
hält, sah er sich gezwungen, die NSA-Dokumente der öffentlichen Diskussion
zugänglich zu machen.
Die rasante Entwicklung der
Informationstechnologie machte diese nationale Grenzen sprengende Überwachungsdimension
erst möglich. Wir stehen vor einer gewaltigen Herausforderung, die uns das digitale
Zeitalter und eine globalisierte Welt aufbürden: Was sind Datenschutz und Privatsphäre,
Berufs- und Betriebsgeheimnisse, Meinungs- und Pressefreiheit eigentlich noch
wert unter den sich verselbständigenden Bedingungen von BigData, automatisierter
Totalüberwachung und digitaler Durchdringung ganzer Gesellschaften, was die Grundrechte
auf Kommunikationsfreiheit und Informationelle Selbstbestimmung? Und können
sich Staaten, Bevölkerungen, ihre einzelnen Bürgerinnen und Bürger dagegen noch
wirksam schützen?
Deutschland ist das am stärksten
überwachte Land der EU und war es, unter anderen technischen Bedingungen,
bereits in Zeiten des Kalten Kriegs – ein veritabler Überwachungsstaat, wie der
Historiker Josef Foschepoth feststellt. Trotzdem rühren sich nur wenig Protest
und Widerstand. Zwar zeigen sich viele Menschen besorgt angesichts der
Ausforschung ihres Kommunikationsverhaltens durch ausländische Geheimdienste. Weil
aber alle gleichermaßen betroffen scheinen, fühlt man sich in einer Art auswegloser
Schicksalsgemeinschaft. Und es fehlt das Bewusstsein individueller
Betroffenheit, weil man ja nichts spürt. Die digitale Durchleuchtung der
Privatsphäre und ganzer Gesellschaften wirkt abstrakt, erzeugt Ohnmachtsgefühle
und Resignation. Dabei stellt sie alle Betroffenen millionenfach unter
Generalverdacht, führt zu massenhafter Verletzung von Persönlichkeitsrechten,
stellt verbriefte Grundrechte, ja die Demokratie in Frage.
Gemessen daran fielen die offiziellen
Reaktionen auffallend zögerlich aus – und man fragt sich, warum die Bundesregierung
den betroffenen Bürgern (und auch Unternehmen) so lange jeglichen Schutz verwehrte.
Deutschland
als Bestandteil der US-Sicherheitsarchitektur
Nach und nach stellte sich heraus, dass
nicht allein US-, britische und andere ausländische Geheimdienste in den
globalen Massenüberwachungsskandal involviert sind, sondern dass auch deutsche Geheimdienste
an dem Geheimverbund partizipieren. So arbeitet der Bundesnachrichtendienst (BND)
mit der NSA intensiv zusammen: Er profitiert von überlieferten Daten und übermittelt
Kommunikationsdaten aus Deutschland - etwa Verdachtsdaten aus der
strategischen Kontrolle des Fernmeldeverkehrs ins und vom Ausland auf der Suche
nach bestimmten verdächtigen Begriffen oder Stimmen, die in wechselnden
Wortbanken gespeichert sind
(§ 7a G-10-Abhörgesetz). Auch
der Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ (VS) und der Militärische Abschirmdienst
(MAD) gehören zum transatlantischen Datenübermittlungsverbund und zu den Nutznießern:
Auch sie dürfen personenbezogene Verdachtsdaten nach den VS- und MAD-Gesetzen
an Dienststellen der Stationierungsstreitkräfte und andere ausländische Stellen
übermitteln. Die enge Datenaustauschpraxis basiert auch auf alten bilateralen
Verträgen mit den Westalliierten und dem Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut
(Art. 3), die die Souveränität Deutschlands bis heute beschränken (vgl. Deiseroth in diesem Band). Ebenfalls
eingebunden in die globale Geheimdienstarbeit sind große internationale
Internet-Unternehmen wie etwa Microsoft, Google, Facebook, deren Server und Kundendaten
für Geheimdienste von höchstem Interesse sind.
Wie sich 2013 nach investigativen Recherchen
von NDR und Süddeutscher Zeitung bestätigte, ist Deutschland integraler
Bestandteil der US-Sicherheitsarchitektur und des „Kriegs gegen den Terror“. Von hier aus organisier(t)en die USA Entführungsflüge,
Folter und Hinrichtungen von Terror-Verdächtigen. Deutsche Agenten und solche alliierter
Partnerdienste forschen verdeckt über die BND-Tarnbehörde „Hauptstelle für Befragungswesen“ jährlich Hunderte Flüchtlinge und
Asylbewerber aus – eine missbräuchliche Instrumentalisierung schutzsuchender
Menschen. Ausgeforscht und gesammelt werden dabei auch kriegsrelevante Informationen,
um verdächtige „Zielpersonen“ ausfindig zu machen und mutmaßliche Terroristen mit
bewaffneten Kampfdrohnen zu ermorden. Über solche extralegalen Hinrichtungen wird
seit 2007 im Afrikom-Regionalkommando der US-Streitkräfte in Stuttgart und auf
der US-Basis Ramstein entschieden.
Mit dieser engen deutsch-amerikanischen
Kooperation dürfte die Zurückhaltung der Bundesregierung nach Snowdens
Enthüllungen zu erklären sein. Angesichts bilateraler Abkommen, Partizipation
und Duldung völker- und menschenrechtswidriger Strukturen und Aktionen hält man
sich lieber bedeckt und beschwichtigt. Die (alte schwarz-gelbe) Bundesregierung
tat jedenfalls nichts, um ihre Bürger zu schützen, obwohl es zu ihren Kernaufgaben
gehört, diesen Schutz zu gewährleisten und der Erosion des demokratischen Rechtsstaates
und der Bürgerrechte Einhalt zu gebieten. Streng genommen: ein Fall für den „Verfassungsschutz“…
„Yes, we scan“ – global und
flächendeckend, ohne Anlass und Verdacht
Von dieser informationellen
Zusammenarbeit zwischen Deutschland und westlichen Geheimdiensten zu
unterscheiden ist die eigenmächtige Telekommunikationsüberwachung durch
ausländische Geheimdienste: Bei der größten globalen Überwachungsorgie der Geschichte,
die von Snowden enthüllt wurde, handelt es sich um eine flächendeckende, anlasslose,
verdachtsunabhängige, also zunächst ungezielte Erfassung, Speicherung und Auswertung
des internationalen und bundesdeutschen Telekommunikations- und Internet-Verkehrs
durch US- und britische Geheimdienste - unter Ausnutzung der Glasfaser-, Unterseekabel-
und Satelliten-Infrastruktur, von Software-Sicherheitslücken im Internet und
der Nutzerdaten großer Internetkonzerne. Auch Handy- und Smartphone-Nutzer sind
rund um die Uhr, rund um den Globus den Angriffen der NSA ausgesetzt: Dabei
werden täglich fünf Milliarden Ortungs- und Meta-Datensätze von Hunderten
Millionen Nutzern gesammelt und in gigantischen Datenspeichern angehäuft.
Die zunächst anlasslose, verdachtsunabhängige
Überwachung ganzer Bevölkerungen ist noch keine gezielte Ausforschung einzelner Personen oder Gruppen. Man
kann das Ganze bis hierher als riesige Vorratsdatenerfassung und –speicherung begreifen.
Erst danach kommt es zu einer Art Schleppnetz- und Rasterfahndung auf der Suche
nach Abweichendem, Auffälligem, Verdächtigem, potentiell Gefährlichem. Die vorsorglich
gespeicherten Massendaten werden dazu mit Spezialprogrammen nach gewissen Kriterien
(Rastern, Schlüsselwörtern) automatisch durchforstet, um „Sicherheitsrisiken“,
also verdächtige Personen oder Gruppen, aus den Datenmassen herausfiltern.
Mithilfe der Verkehrs- oder Metadaten, die in Kombination oft mehr aussagen als
Gesprächsinhalte, lassen sich Kontakt-, Kommunikations- und Bewegungsprofile
erstellen, zwischenmenschliche Beziehungsgeflechte (re-)konstruieren und
Inhalte erschließen. Wer hat wann von wo mit wem an welchem Ort wie oft und wie
lange kommuniziert?
Die ursprüngliche
„Verdachtsschöpfungsstrategie“, die alle betroffenen Teilnehmer an Kommunikationsprozessen
unter Generalverdacht stellt und zu gläsernen Menschen macht, geht also über in
eine „Verdachtsverdichtungsstrategie“. Wer
dabei als „vorverdächtig“ im Raster hängen bleibt, wird genauer unter die Lupe
genommen. Erst dann wird aus flächendeckender Registrierung gezielte
Ausforschung: Dann wird individuell ermittelt, geortet und observiert, werden
V-Leute oder Verdeckte Ermittler eingesetzt, Computer von verdächtigen Zielpersonen
und ihres sozialen Umfelds mit Schadsoftware infiziert, Wohnräume überwacht oder
Mobiltelefone in Abhörwanzen verwandelt.
Am Ende solcher Ermittlungen kann eine
verweigerte Einreise in die USA stehen, wie im Fall des Schriftstellers Ilija
Trojanow, der die US-Überwachungsorgie kritisiert hatte, oder aber im
Extremfall ein Drohnenbeschuss auf „Terrorverdächtige“. Dazwischen ist manche
Unannehmlichkeit, Schikane oder Tortur denkbar – von verschärften Grenzverhören,
Nachforschungen beim Arbeitgeber, über Staatstrojaner im PC, die Aufnahme in US-„No-Fly“-
oder Terrorlisten bis hin zu Verhaftungen oder Folter in Spezialgefängnissen;
um am Ende vielleicht zu erfahren, dass man Opfer einer Verwechslung ist wie Khaled
El Masri, der mit einem „Terroristen“ verwechselt und von CIA-Agenten nach
Afghanistan verschleppt und monatelang gefoltert wurde; oder dass man zur
falschen Zeit am falschen Ort war wie Murat Kurnaz, der aufgrund von Geheimdienst-Informationen
als angeblicher „Terrorverdächtiger“ für viereinhalb Jahre im US-Foltercamp
Guantànamo verschwand.
International,
national - illegal
Nur mit solchen Methoden könne man Terroranschläge
verhindern, behaupten die Protagonisten der Massenüberwachung, was auch schon
passiert sein soll – eine Behauptung, die aus Geheimhaltungsgründen jedoch nie
wirklich überprüfbar war. Belegbar
hingegen ist, dass sich das globale System geheimdienstlicher Kommunikationsüberwachung
im Namen der „Sicherheit“ abseits demokratischer Legitimation und parlamentarischer
Kontrolle und jenseits von Völkerrecht und Menschenrechten entwickelt hat.
Sofern ausländische Geheimdienste Überwachungsmaßnahmen
direkt in Deutschland gegen deren Bürger durchführen, gibt es dafür keine
Rechtsgrundlage – vielmehr gilt für sie prinzipiell die Pflicht, bundesdeutsches
Recht zu achten. Sollte es zu Rechtsverstößen kommen, müssten diese hierzulande
geahndet werden; allerdings kann die Staatsanwaltschaft gemäß § 153d StP0 von
der Verfolgung aus politischen Gründen absehen, etwa dann, wenn angeblich „schwere
Nachteile“ für die Bundesrepublik drohen.
Werden die Daten dagegen außerhalb Deutschlands
– etwa über Glasfaserkabel, Satelliten oder internationale Internetserver –
abgefangen, so liegt nach herrschender Auffassung kein (Völker-)Rechtsverstoß
vor, denn bloße „Fernaufklärung“ sei kein unzulässiger Eingriff in die inneren
Angelegenheiten eines überwachten Staates – obwohl doch systematische Menschenrechtsverstöße
zu beklagen sind: gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Art. 12),
den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 17, 19),
die Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 8, 10), das Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung in der Europäischen Grundrechte-Charta (Art.
7, 8, 11) und im Grundgesetz (Art. 2 I; Art. 1 I) sowie gegen das Grundrecht
der Post- und Fernmeldefreiheit (Art. 10 GG). Unter den Bedingungen globaler Kommunikation
und Überwachung im IT-Zeitalter verkommen diese Menschenrechte zur Makulatur,
falls nicht unverzüglich internationale Abhilfe geschaffen wird.
Im Dezember 2013 hat ein US-Bundesrichter
in einem ersten (vorläufigen) Urteil entschieden, dass die
NSA-Massenüberwachungspraxis eine missbräuchliche und willkürliche „Invasion in
das Privatleben“ der betroffenen Bürger darstelle und „im Kern verfassungswidrig“
sei; im Übrigen sei es der Regierung nicht gelungen, auch nur einen einzigen
dadurch verhinderten Terroranschlag darzulegen. Ein anderes Bundesgericht kam
demgegenüber Ende 2013 zu dem Ergebnis, die Überwachung sei rechtens.
Spionage im rechtsfreien Raum
Die
Bundesrepublik ist, wie bereits erwähnt, Partnerstaat im großen aggressiven Spiel
westlicher Geheimdienste. Sie ist aber auch Angriffsziel: So ist Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU) per Handy-Überwachung gezieltes Opfer jahrelanger NSA-Ausforschung
geworden, also Opfer eines klassischen Spionageakts in Friedenszeiten. Schließlich
interessieren sich die USA für deutsche Außen- und Handelspolitik, Fragen
wirtschaftlicher Stabilität, Gefahren für die Finanzwirtschaft, Rüstungsexport,
neue Waffentechnologien. Der „Verfassungsschutz“, zu dessen Aufgaben die
Spionageabwehr gehört, hat davon offenbar nichts mitbekommen, geschweige denn,
diesen Lauschangriff verhindert. Nach dessen Aufdeckung zeigten sich Merkel und
ihre Regierung wegen der „völlig
neuen Qualität“ richtig erbost, denn:
„Abhören
von Freunden, das geht gar nicht“.
Also: Nicht die
massenhafte Ausspähung der Bevölkerung, nicht die Sorge um deren Schutz,
sondern erst dieser unfreundliche Akt und Hinweise auf Wirtschaftsspionage führten
endlich zu Reaktionen gegenüber den Auftraggebern im Weißen Haus. Aber es kam noch dicker: CIA und NSA belauschen
auch EU- und UN-Institutionen sowie deutsche Regierungsstellen und Botschaften.
Auch Regierungschefs anderer Staaten sollen Opfer gezielter NSA-Überwachung geworden sein,
ebenso wie Papst Franziskus.
Fast alle
Staaten spionieren andere Länder aus, um Staats- und Wirtschaftsgeheimnisse
auszukundschaften - in Friedenszeiten geschieht dies im rechtsfreien Raum, denn
als „zweitältestes Gewerbe der Welt“ ist Spionage praktisch
Völkergewohnheitsrecht. Werden fremde Spione jedoch erwischt, dann müssen sie
sich in dem ausspionierten Land strafrechtlich verantworten: "Wer für den Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche
Tätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland ausübt" wird hierzulande
mit bis zu fünf, in schweren Fällen bis zu zehn Jahren Haft bestraft (§ 99 StGB „Geheimdienstliche
Agententätigkeit“). Erfolgen Spionage und Abhöraktionen allerdings aus
Botschaften heraus, so ist dies zwar völkerrechtswidrig – doch der besondere Schutz diplomatischer
Vertretungen verhindert in solchen Fällen strafrechtliche Aufklärung und Ahndung.
Informationelle
Vorherrschaft
Es geht bei dieser Ausforschungsarbeit
auch und gerade um die Sicherung politischer, ökonomischer und
militärstrategischer (Hegemonial-)Interessen in einer nach Ende des Kalten Krieges nicht mehr bipolaren
Welt, sondern in einer unsicheren Welt(un)ordnung - mit unkalkulierbaren
„asymmetrischen“ Krisen, Konflikten und Kriegen. Weltmächte, die auch künftig ihre
Hegemonie absichern wollen, trachten mit allen Mitteln nach weltweiter informationeller
Vorherrschaft.
Das Szenario von Digitalspionage und Massenüberwachung
macht deutlich: Wir befinden uns in einem geheimen „Informationskrieg“ – oder anders
ausgedrückt: in einem permanenten präventiven Ausnahmezustand, der seinen
Ausnahmecharakter längst verloren hat und zum rechtlichen Normalzustand
geworden ist. Ausgestattet mit einem geheimdienstlich-informationstechnisch-militärischen
Komplex, mit Vorratsgesetzen
und Notstandsinstrumenten zur grenzüberschreitenden Überwachung und Intervention;
und dem Ziel globaler Krisenverhütung und –bewältigung, präventiver und
repressiver Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung überall auf der Welt.
Oder aus einem anderen Blickwinkel
betrachtet: Es geht um präventive Vormacht- und Herrschaftssicherung in Zeiten verschärfter ökonomischer Krisen, sozialen Niedergangs, drohender Rohstoffknappheit und wachsender „Flüchtlingsströme“.
Schließlich gilt es, Staat, Staaten oder -gemeinschaften nicht etwa nur
vor Terror und Gewalt zu schützen, sondern auch gegen mögliche soziale Unruhen
und militante Aufstände, gegen Ressourcenmangel, unkontrollierte (Ein-) Wanderungsbewegungen
vorsorglich zu wappnen. Diese Vorsorgeentwicklung vollzieht sich im
Schatten des Rechtsstaats und trägt totalitäre, ja paranoide Züge. Die
Präventivlogik hat auch in Europa und Deutschland, verstärkt nach nine-eleven, einen
gehörigen Wandel im Staatsverständnis bewirkt: vom demokratischen Rechtsstaat
zum entgrenzten Präventionsstaat, in dem die Eingriffschwelle immer mehr
herabgesenkt wird, Informationen und unkontrollierbare Geheimdienste als
Macht(sicherungs)instrumente eine immer größere Rolle spielen.
Ein solches Präventionssystem
wittert in jedem Menschen, in jedem Gedanken eine potentielle Bedrohung. Niemand
soll sich vor Überwachung sicher sein können. Doch ein Mensch, der unter
Überwachung steht, ist niemals frei, wie Ende 2013
Hunderte international bekannter Autoren in ihrem Aufruf „Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter“ schreiben.
Überwachte Menschen sind in ihrem Kommunikationsverhalten, ihrer
privaten Lebensgestaltung betroffen, allenfalls noch „frei“ als Konsument. Schon
wer sich nur überwacht und beobachtet fühlt, verändert sein Verhalten, wird
unsicher, entwickelt Ängste, was den demokratischen Rechtsstaat schädigt, wie
das Bundesverfassungsgericht bereits vor dreißig Jahren in seinem
Volkszählungsurteil festgestellt hat. Selbstkontrolle, vorauseilender Gehorsam
und Selbstzensur machen Menschen zu Spitzeln ihrer selbst – ein tödlich wirkendes
Gift für eine offene, freiheitliche demokratische Gesellschaft.
Der digitale NSA-Datenexzess ist logische
Folge einer aggressiven Politik, die Sicherheit zum Zweck der Kriminalitäts-
und Terrorabwehr über alles stellt – frei nach Ex-Bundesinnenminister
Hans-Peter Friedrich (CSU), der verbriefte Grund- und Freiheitsrechte einem
frei erfundenen „Supergrundrecht Sicherheit“ unterordnet. Diese verfassungswidrige Sicht führt in einen
entfesselten Präventionsstaat im permanenten
Ausnahmezustand, in dem rechts-
und kontrollfreie Räume gedeihen, Persönlichkeitsrechte erodieren, Rechtssicherheit
und Vertrauen verloren gehen. Dieser Angriff auf Substanz und Selbstverständnis
freiheitlicher Demokratien erfolgt nicht etwa von außen, von „extremistischen“
oder terroristischen Kräften, sondern aus dem Inneren des Systems – wie ein
Autoimmun-Angriff, eine überschießende
Reaktion des Immunabwehrsystems, das zerstört, was es doch schützen sollte:
Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte.
Abrüstung
des Geheimdienstkomplexes – Aufruf zum
Whistleblowing
Wir brauchen dringend eine Abrüstung des
Geheimdienstkomplexes, denn Geheimdienste in der Demokratie bilden ein intransparentes,
schwer kontrollierbares und damit demokratiewidriges Parallel-Universum. Auch in
Demokratien neigen sie zu Skandalen, Verselbständigung, Machtmissbrauch und
Willkür - und tatsächlich haben sie sich als erhebliches Gefahrenpotential für
Demokratie und Verfassung erwiesen. Die einzig funktionierende Kontrolle von
Geheimdiensten besteht in deren Auflösung (vgl.
Kutscha in diesem Band).
Mit einem,
womöglich geheimen No-Spy-Abkommen zwischen Deutschland/EU und USA wäre es
nicht getan. Zu sehr hat die Geheimdienst-Connection krakenartig die Welt umspannt,
als dass bilaterale Abkommen mit den üblichen Ausnahmeregelungen deren menschenrechtswidrigen
Machenschaften Einhalt gebieten könnten. In allererster Linie sind Offenlegung,
unabhängige Aufklärung und Ahndung zu fordern (s. dazu auch die Forderungen von
Deiseroth in diesem Band).
Die Legalisierung der Vorratsdatenspeicherung,
also einer anlasslosen, verdachtsunabhängigen Speicherung aller
Telekommunikationsdaten, wie sie die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD Ende
2013 beschlossen hat, würde den Überwachungskosmos hierzulande noch gehörig
erweitern, anstatt ihn, wie dringend geboten, wirksam einzuschränken und zu
lichten; abgesehen davon ist dieses Projekt schon einmal vor dem Bundesverfassungsgericht
weitgehend gescheitert und der EU-Generalanwalt hat im Dezember 2013 vor dem
Europäischen Gerichtshof die zugrunde liegende EU-Richtlinie für unvereinbar
mit der EU-Grundrechtecharta erklärt.
Wir brauchen eine
breite gesellschaftspolitische Debatte über
Transparenz, Kontrolle und Grenzen der Überwachung in einer Demokratie, über Existenzberechtigung
und Legitimation geheimer, unkontrollierbarer staatlicher Institutionen. Und gerade
hier haben Edward Snowden, Bradley (Chelsea) Manning, Julian Assange (Wikileaks) und andere Whistleblower im
digitalen Zeitalter und in einer globalisierten Welt sensationelle
Pionierarbeit geleistet und enormen Mut bewiesen. Das Whistleblowertum hat
unter diesen Bedingungen eine weit größere Bedeutung gewonnen und muss endlich wirksam
geschützt werden. Snowden hat seine Freiheit riskiert, um die unsere zu schützen.
Solchen Whistleblowern muss für Ihren Einsatz um Transparenz im Allgemeininteresse
und für Menschenrechte besonderer Schutz vor straf-, arbeits-, dienst- und zivilrechtlichen
Konsequenzen gewährt werden. Wir müssen eine Kultur des Whistleblowing entwickeln,
die es in der Bundesrepublik leider noch nicht ansatzweise gibt. (Stand:
Anfang 2014)
Literaturauswahl
Antwort der Bundesregierung
auf die Kleine Anfrage der Abg. Jan Korte u.a. und der Fraktion Die Linke –
BT-Drs. 18/39 – Aktivitäten der Bundesregierung zur Aufklärung der
NSA-Ausspähmaßnahmen und zum Schutz der Grundrechte, BT-Drucksache 18/159 v.
12.12.2013
Appelbaum, Jacob, u.a.,
NSA: Die Klempner aus San Antonio, in: Der Spiegel 1/2014, S. 100 ff.
Beckedahl, Markus/Meister,
Andre, Überwachtes Netz, Berlin 2013
Fuchs, Christian/Goetz,
John, Geheimer Krieg, Reinbek 2013
Foschepoth, Josef,
Überwachtes Deutschland, Göttingen 2012
Schmidt-Radefeldt, Roman,
Nachrichtendienstliche Überwachung in Deutschland auf der Grundlage des
NATO-Stationierungsrechts, Wissenschaftlicher Dienst Dt. Bundestag, WD
2-3000-087/2013
Wahlen, Dierk, Rechtsgrundlagen der informationellen
Zusammenarbeit zwischen deutschen und ausländischen Nachrichtendiensten, Berlin,
WD 3-3000-207/2013
Weichert, Thilo, Prism,
Tempora, Snowden…, in: Datenschutz-Nachrichten 3/2013, S. 109 ff.
USA: Codename „Apalachee“,
in: Der Spiegel 35/2013, S. 85 ff.
© Nachdruck, auch im Internet, ohne Genehmigung von
Autor und Verlag nicht erlaubt.
Gössner, Rolf,
Dr. jur.,
Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater. Vizepräsident der Internationalen
Liga für Menschenrechte. Seit 2007 stellv. Richter am Staatsgerichtshof der
Freien Hansestadt Bremen sowie Mitglied der Deputation für Inneres der
Bremischen Bürgerschaft. Mitherausgeber der Zweiwochenschrift
"Ossietzky", Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises
„BigBrotherAward“ sowie der Carl-von-Ossietzky-Medaille (Liga).
Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestages und von Landtagen.
Auszeichnung mit dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik
2012 und dem Bremer Kultur- und Friedenspreis 2013. Autor zahlreicher
Sachbücher zu Bürger- und Menschenrechtsthemen, zuletzt: "Menschenrechte
in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der Heimatfront“, Hamburg 2007. Geheime
Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates,
München 2003; akt. Neuauflage als e-book 2012 bei Knaur-Verlag, München. Direktlink:
http://amzn.to/HQcOU2. Internet: www.rolf-goessner.de
Grundrechte-Report
2014 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte
in Deutschland
Herausgeber:
T. Müller-Heidelberg, E. Steven, M. Pelzer, M. Heiming, H. Fechner, R. Gössner,
U. Engelfried und S. Rotino; Preis 10,99 €; 240 Seiten; ISBN 978-3-596-03018-7;
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M., Juni 2014.